„Nee, so bin ich doch gar nicht!“ – egal ob auf der Arbeit oder im Privaten, immer wieder sehen wir uns mit Einschätzungen anderer konfrontiert, mit denen wir uns so gar nicht identifizieren können. Das passiert, wenn eine deutliche Diskrepanz zwischen der Selbst- und der Fremdwahrnehmung vorliegt. Was diese beiden Begriffe bedeuten, wie sie sich zusammensetzen und wie du sie zu deinem eigenen Vorteil nutzen kannst, erfährst du in diesem Artikel.
Selbst- und Fremdwahrnehmung: Eine Begriffsunterscheidung
Selbst- und Fremdwahrnehmung haben eines gemeinsam: Es geht um die eigene oder fremde Einschätzung von persönlichen Eigenschaften – welches Bild habe ich von mir und inwiefern deckt es sich mit dem Bild, das andere von mir haben? Wirke ich souverän oder unbeholfen, flexibel oder unbeweglich, diplomatisch oder besonders durchsetzungsstark? Diese Auflistung zeigt allerdings noch nicht, dass alle Charaktereigenschaften immer innerhalb eines Spektrums angesiedelt sind, es also unendlich viele weitere mögliche Punkte zwischen zwei Extrempunkten gibt.
So können wir z. B. für das Gegensatzpaar streitlustig – harmonisch noch weitere Zwischenwerte bestimmen, die auf einem Spektrum so aussehen könnten: streitlustig – konfrontativ – abweisend – diplomatisch – tolerant – harmonisch.
Die Zwischenräume lassen sich – wie wir bereits festgestellt haben – noch weiter füllen. Was bringt uns diese Erkenntnis? Wenn wir erkennen, wie viele Feinunterscheidungen es innerhalb jedes Gegensatzpaars von Charaktereigenschaften gibt, wird uns bewusst, wie wichtig es ist, die Wahrnehmung anderer mit unserer eigenen abzugleichen, um deutliche Diskrepanzen zu verringern und damit auch langfristig das eigene Auftreten, die Kommunikation und die eigene Leistung auf der Arbeit (und auch im Privaten) zu verbessern.
Bei der Selbst- und der Fremdwahrnehmung werden je zwei Bereiche unterschieden: bekannt und unbekannt. Eine besonders übersichtliche Darstellung dieser insgesamt vier Bereiche bietet das Johari-Fenster, 1955 entwickelt von den beiden US-amerikanischen Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham.
Das Johari-Fenster
Das Johari-Fenster unterscheidet vier Bereiche:
Die öffentliche Person
Hierzu zählen alle Charaktereigenschaften und Fähigkeiten, die sowohl mir selbst und anderen bekannt sind und die ich bewusst von mir preisgegeben habe. Der Aspekt der bewussten Offenlegung ist wichtig für die Unterscheidung, da nur so die Deckungsgleichheit von Selbst- und Fremdwahrnehmung gewährleistet werden kann, die ausschlaggebend für die Definition dieses Feldes ist.
Beispiel: Ich nehme mich selbst als flexibel wahr und verhalte mich am Arbeitsplatz / im Privaten dementsprechend und erhalte von anderen das Feedback, dass ich flexibel bin.
Der blinde Fleck
Hierunter werden alle Eigenschaften und Fähigkeiten zusammengefasst, die andere wahrnehmen, von mir selbst aber nicht erkannt werden. Gründe für die eigene Unkenntnis können im Physischen liegen, in einer (un)bewussten Ausblendung oder in einer Art von Vermeidungsverhalten. Die zentrale Frage lautet hier, wie ich auf mein Gegenüber wirke. Diese Wirkung setzt sich aus Inhalten, Stimme, Mimik, Gestik oder Körpersprache im Allgemeinen zusammen.
Beispiel: Ich präsentiere etwas und nehme mich als sehr motiviert und aufgeschlossen wahr, zappele während meines Vortrags aber herum, was mir selbst nicht bewusst ist. Nach meinem Vortrag erhalte ich das Feedback, dass andere mich als sehr nervös, aufgekratzt und fahrig wahrgenommen haben.
Mein Geheimnis
Eine Art persönliches Schatzkästchen – hierunter fallen alle Aspekte der eigenen Person, die bewusst vor anderen verborgen werden und das Ergebnis von Selbstreflexion sein können. Durch die Ausbildung stärkerer sozialer Bindungen und das damit verbundene Teilen von Geheimnissen können Punkte dieses Feldes in den Bereich der öffentlichen Person wandern.
Beispiel: Ich mache mir selbst sehr starken Leistungsdruck, verberge dies jedoch bewusst vor anderen.
Unbekanntes
Dieses Feld umfasst alle Aspekte, die weder mir selbst noch anderen bewusst sind. Beispiel: Unentdeckte Talente und Begabungen
Selbst- und Fremdwahrnehmung annähern durch konstruktives Feedback
Wie Selbst- und Fremdwahrnehmung sich unterscheiden, haben wir nun ausreichend geklärt. Welchen Nutzen können wir nun aus dieser Gegenüberstellung ziehen? Und warum überhaupt?
Menschen denken gerne in Schubladen – dieses Vereinfachen und Einordnen von Beobachtungen hilft uns dabei, uns schnell und einfach in der Welt zu orientieren. Das Wahrgenommene wird dabei im Gehirn schnell mit bestimmten Schemata abgeglichen und dem passendsten zugeordnet. Die Schubladen unterscheiden sich von Mensch zu Mensch dadurch, dass sie durch Erfahrungen und andere Voreinstellungen ergänzt werden. Die Einschätzung des Gegenübers erfolgt über Eindrücke, darüber, welche Eigenschaften erkennbar sind.
Dabei ist die Frage nach den Eigenschaften einer Person auch immer mit der Frage verbunden, welche Rolle diese Person spielen kann. Auf der Arbeit könnte eine Beobachtung zur Souveränität eines Angestellten mit der Frage verknüpft sein, ob sie in Zukunft eine Führungsposition erhalten könnte. Im Privaten könnte die Frage nach dem Empathievermögen einer Person mit der Frage verknüpft sein, ob in Zukunft eine Freundschaft aufgebaut werden könnte.
Indem wir Selbst- und Fremdwahrnehmung miteinander angleichen, können wir erreichen, immer seltener mit dem eingangs formulierten „Nee, so bin ich doch gar nicht!“ reagieren zu müssen. Wir werden auf Dauer handlungsfähiger.
Das erreichen wir durch den Abgleich der beiden Wahrnehmungsperspektiven. Der Schlüssel liegt hierbei im stetigen Einholen von konstruktivem Feedback, das den einzigen Zugang zu unserem Fremdbild darstellt, und dem kontinuierlichen Abgleich dieser Werte mit unserem eigenen Selbstbild. Zum Einstieg in eine konstruktive Feedback-Kultur bieten sich auch Übungen im Team an. Durch Feedback und den daraus resultierenden Vergleich unserer Wahrnehmung mit der Einschätzung anderer vergrößern den Bereich der öffentlichen Person und verkleinern unseren blinden Fleck – woraus sich letztlich eine erhöhte Handlungsfähigkeit ergibt, ein Gefühl größerer Selbstkontrolle, mehr Selbstbewusstsein und das Ablegen unliebsamer Angewohnheiten.
Zusammenfassung
Stimme, Körpersprache, eigensinnige Formulierungen – die unterschiedlichsten Aspekte unseres Verhaltens können von anderen stark abweichend wahrgenommen werden als von uns selbst und dafür sorgen, dass wir in Schubladen einsortiert werden, in die wir nicht gehören möchten. Durch den Abgleich der Perspektiven von Selbst- und Fremdwahrnehmung können wir diese unbewussten Faktoren reduzieren. Unerlässlich hierfür ist das kontinuierliche Einholen konstruktiven Feedbacks, Hilfestellung leistet uns das Johari-Fenster. Insgesamt können wir so durch die Arbeit an uns selbst handlungsfähiger und selbstbewusster werden.
Du hättest gerne noch einen Erfahrungsbericht zum Thema Selbst- und Fremdwahrnehmung? Dann geht es hier weiter: